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Ich weiß nicht, ob du sie auch hast (meine Frau hat sie beispielsweise nicht). Ich habe bei mir eine alte Blockade entdeckt, die mich davon abgehalten hat, die warme Herzlichkeit liebevoller Menschen zu genießen: mein Wille, von meinem Umfeld verstanden zu werden und so geliebt zu werden, wie ich bin.
Ja – diesen Willen habe ich als blockierend entlarvt. Wieso?
Stell dir beim Handballspiel vor, du willst deinem Mitspieler den Ball zuwerfen, weil er frei vor dem Tor steht. Du willst, dass er den Ball ins Tor wirft. Er schaut dich liebevoll und lächelnd an, voller Herzlichkeit, fängt aber den Ball nicht, den du ihm zugeworfen hast. Er lässt den Ball von seinem Körper abprallen, während er weiterhin mit seiner ganzen warmen Herzlichkeit lächelnd in deine Augen schaut.
Weil du unbedingt wolltest, dass dein Mitspieler aus seiner idealen Position heraus ein Tor wirft (= Festhalten an deinem Ziel), wunderst du dich jetzt sehr über sein Verhalten. Vielleicht ärgerst du dich sogar (Schmerzverknüpfung aufgrund der versäumten Situation = Verlustschmerz = Ärger).
Nimmst du das Spiel aber sehr locker, dann amüsierst du dich wahrscheinlich über das Verhalten deines Mitspielers („Was machst du denn??!“).
Was du in dieser Situation aber sicherlich nicht können wirst: die warme Herzlichkeit deines liebevollen Mitspielers in dem Moment zu genießen.
Wenn du liebevollen Menschen begegnest, wenn du begeistert von ihrer Offenheit bist und nun ihre warme Herzlichkeit genießen willst, dann könnte es sein, dass dadurch gleichzeitig bestimmte Wünsche oder Bedürfnisse in dir geweckt werden, wie der andere sich dir gegenüber im optimalen Fall verhalten "soll". Du willst dich durch das, was er tut, tief verstanden und gesehen fühlen. Du willst eine Wellenlänge erleben. Jedes liebevolle Verhalten des anderen, das trotz seiner offenen Herzlichkeit nicht zu deinen Wünschen passt, macht dir deine Situation irgendwie „kaputt“.
Dabei liegt das nicht daran, dass der andere dich nicht versteht und dir nicht das gibt, was du eigentlich wirklich brauchst. Sondern es liegt an deinem starken Willen, dass der andere sich auf eine bestimmte Weise verhalten soll, damit du dich endlich vollständig „verstanden“ und „gesehen“ und „geliebt“ fühlst.
Dieser Wille, verstanden, gesehen und geliebt zu werden, ist ein Relikt aus unserer Kindheit in der Beziehung zu unseren Eltern. Wir haben als kleines Kind das Verständnis und die Liebe gebraucht, um uns geborgen und beschützt zu fühlen und überleben zu können. Haben wir es öfter nicht erhalten und haben wir damals unseren dazugehörigen Verlustschmerz nicht vollständig verarbeiten können, dann sind wir in diesem Bedürfnis nach Verständnis, Geborgenheit und Liebe stecken geblieben und übertragen dieses Bedürfnis auf gegenwärtige Beziehungen.
Doch die Realität ist, dass wir uns aufgrund unserer unterschiedlichen Gehirne niemals vollständig gegenseitig sehen und verstehen können. Es gibt immer Unterschiede und immer Missverständnisse. Das wird uns im Laufe unseres Lebens immer klarer und klarer.
Das Glück miteinander liegt in Wirklichkeit darin, dass wir mitfühlen und spüren können, wie unser Gegenüber glücklich mit sich selbst ist und seine eigene Lebensfreude lebt. Wir erleben: Unser Gegenüber liebt sich selbst und kann aus dieser Selbstliebe heraus offene und warme Herzlichkeit und Zugewandtheit leben. Dadurch fühlt sich für uns der Kontakt zu diesem Menschen wunderschön an.
Ich biete dir also Folgendes an: Wenn du schon soweit bist, dann lasse deinen Willen, verstanden und gesehen zu werden, vollständig los.
Mehr noch: Erkenne, dass als Erwachsene:r dein Wille, vom anderen verstanden zu werden, eine Grenzüberschreitung gegenüber dem anderen darstellt. Denn wenn du vom anderen verstanden werden willst, ohne dass du den anderen gefragt hast, ob er bei deinem Ziel überhaupt mitspielen will und ob er versuchen möchte, dich optimal zu verstehen, solange ist dein Wille ein „Überstülpen“. Du lässt dem anderen nicht seine freie Entscheidung, ob er dabei mitmachen will, dir ein Gefühl von Verständnis zu geben. Sondern im schmerzvollsten Fall erwartest oder verlangst du es sogar von ihm, dass er unbedingt zuhören und dich unbedingt verstehen "soll".
Wenn du diesen Zusammenhang erkennen kannst, dass dein Wille, vom anderen verstanden zu werden, dem anderen gegenüber eine „Diktatur“ ist, kannst du diesen Willen wesentlich besser loslassen. Denn du willst ja eigentlich gar nicht über den anderen bestimmen. Eigentlich willst du zuerst den anderen fragen, ob er dir für deinen Wunsch zur Verfügung stehen würde. Und erst, wenn der andere gerne mitmacht, kannst du ihm mitteilen und ihn darin führen und anleiten, wie er sich optimal verhalten sollte, damit du dich von ihm verstanden und gesehen und geliebt fühlst (= optimales Zusammenspiel). So herum macht es viel mehr (Lebens)Freude.
Lasse also deinen Willen, verstanden und gesehen zu werden, vollständig los. Genieße allein die warme, liebevolle Herzlichkeit anderer Menschen, die wie von selbst vorhanden ist, weil diese anderen Menschen sich selbst lieben können und sich einen hohen Selbstwert (siehe Schritt 6) geben. Genieße diese Menschen, wie du schöne Blumen genießt oder einen Duft genießt oder die Vögel im Wald. Freue dich über die fröhlichen, offenen, schmerzfreien und herzlichen Verhaltensmuster eines Menschen, die er gerade lebt. So wie du schöne Musik genießt, die gerade gespielt wird – ohne dir dabei von der Musik zu wünschen, wie sie verlaufen soll. Du genießt, was da ist.
Was du aktiv tun kannst: Höre dir verschiedene Songs an und finde deinen Lieblingssong. Erlebe deine Kontakte zu verschiedenen Menschen und bestimme (bewerte auf natürliche Weise), welche deine Lieblingsmenschen sind. Das Zusammensein mit deinen Lieblingsmenschen (ohne deinen Willen, von ihnen verstanden und gesehen und geliebt zu werden) könnte deine Lebensfreude umfassend unterstützen.
Umgekehrt erlebst du wahrscheinlich mit deinen Lieblingsmenschen auch, dass sie ebenso in deine Richtung nicht den Willen haben, dass sie sich von dir verstanden, gesehen und geliebt fühlen. Sie „wollen“ nichts von dir, ohne dich zu fragen. Sie wollen dich nicht einfach so verändern.
Stattdessen wisst ihr, dass ihr euch gegenseitig nie wirklich vollständig verstehen könnt. Ihr nehmt dies als „natürlich“ und „gegeben“ an. Ihr respektiert und genießt euch so, wie ihr seid – ohne dabei wissen zu können, wie das Gegenüber eigentlich wirklich ist. Das ist es, was ich „Menschenwürde“ nenne. Wir würdigen uns gegenseitig darin, dass jeder sich nur selbst am besten kennen kann. Niemand weiß besser über einen anderen Menschen Bescheid als dieser andere Mensch selbst über sich.
Hier findest du ein PDF-Dokument von mir, in welchem ich das komplette Kapitel über meine neue und klare Definition von Menschenwürde aus meinem Buch „Dein Gehirn deutet“ öffentlich zur Verfügung gestellt habe.
Übrigens bist du in dieser Form von Lebensfreude nicht abhängig von deinen realen Lieblingsmenschen. Allein in deiner Vorstellung kannst du dir eine (utopische) Denk-Alternative erschaffen, in welcher du dir ausmalst, wie es sich für dich anfühlen würde, von vielen Menschen umgeben zu sein, die dich wirklich ganz tief verstehen und sehen und die dich so lieben, wie du bist. Sie stehen dir für alle Wünsche und Bedürfnisse genauso zur Verfügung, wie du es brauchst. Wenn du dich in diese Fantasie intensiv hineinbegibst, kannst du dich selbst auf diese Weise emotional „nachnähren“, falls du diesbezüglich in deiner Kindheit noch einen Mangel bis in dein Erwachsensein mitgebracht hast.
Ich habe das eine Zeit lang oft gemacht – und dabei Rotz und Wasser geheult. Denn diese Vorstellung hat mich tief berührt und hat mich im Laufe der Zeit innerlich immer mehr entspannt. Auf diese Weise konnte ich nachträglich unerlöste Schmerzen aus meiner Kindheit auflösen (siehe auch Schritt 7) und dadurch meiner Lebensfreude wieder mehr Raum zur Verfügung stellen.
Wenn du in manchen Alltagssituationen denkst: „Immer geht es um die anderen! Es soll doch mal um mich gehen!!“, dann weißt du nun, dass dies ein Bedürfnis aus deiner Kindheit ist, in der du noch Sicherheit und Geborgenheit von den Eltern gebraucht und dich nach ihrer Aufmerksamkeit gesehnt hast. Denkst du in der Gegenwart so, dann hast du den Kontakt zu deinem Wissen verloren, dass du selbst frei über dein Leben bestimmst (Schritt 1). Du bist nicht mehr grundsätzlich abhängig von der Aufmerksamkeit anderer Menschen.
Kannst du von diesem grenzüberschreitenden Willen, andere Menschen auf dich zu fixieren, loslassen und kannst du genießen, was dir von deinen Lieblingsmenschen durch ihre Herzlichkeit ganz von selbst geschenkt wird, dann bist du wesentlich freier, innerhalb menschlicher Kontakte Lebensfreude zu fühlen und die warme Herzlichkeit liebevoller Menschen so anzunehmen, wie es dir entgegenbracht wird. Ihr lebt in der gegenseitigen Würdigung, dass jeder Mensch sich nur allein am besten kennt und dass jeder nur allein bestimmen kann, was ihn Lebensfreude fühlen lässt.
Sollte dich die Realität trotzdem unzufrieden machen, kannst du dich zurückziehen und dir mithilfe von wundervollen Denk-Alternativen nachträglich immer wieder das schenken, was du gebraucht hast oder was du noch brauchst.
Hier schenke ich dir einen „Anhang“ als Unterstützung für das Lösen der anfangs erwähnten Blockade, ein leicht bearbeiteter Ausschnitt aus meinem Buch „Dein Gehirn deutet“ über das Thema „Hilflosigkeit“:
Es gibt einen schwierigen Moment im Leben, in welchem eine andere Person uns gegenüber dominant auftritt, streng und hart wird und einen vorwurfsvollen Ton entwickelt, als ob sie irgendwie „im Recht“ sei. Sie ist auf ihre eigenen Wünsche konzentriert und fordert von uns ein anpassendes Verhalten. Wir „sollen“ uns so verhalten, wie es für sie stimmig ist. Oder sie setzt uns eine klare Grenze, schließt uns aus, vielleicht sogar in abwertendem Tonfall („Mit dir will ich nichts mehr zu tun haben!“). Durch dieses Verhalten angeregt fühlen wir uns oft wie in einer „Opfer-Rolle“. Es löst Stress in uns aus. Wir fühlen uns irgendwie „klein“, untergeordnet, unsicher.
Vielleicht redet die Person auch über uns und wir merken, dass sie sich ein total falsches Bild von uns macht. Oder wir merken an ihrer Reaktion uns gegenüber, dass sie uns irgendetwas unterstellt, was gar nicht stimmt. Wir sind doch ganz anders, als sie denkt, wie wir sind. Wir haben doch ganz andere Sachen gesagt oder etwas ganz anders gemeint, wie sie es jetzt auffasst. Sie missversteht uns völlig – und auf dieses Missverständnis reagiert sie komplett unnötig im Moment mit heftiger Wertung oder „angreifender Verteidigung“.
Wir sind vollständig auf das distanzierende Verhalten und auf die Missverständnisse der anderen Person konzentriert. Sie steht mit ihrem aktuellen schmerzvollen Bewertungsmaßstab im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Wir selbst fühlen uns unsicher und angepasst – auf ganz natürliche Weise, denn wir befinden uns ja in der Gast-Rolle, also sozusagen „im Zuhause“ der anderen Person. Und wenn sie sich auch noch streng verhält, dann fühlen wir zusätzlich zur Unsicherheit und Anpassung einen Stress. Vielleicht wollen wir uns auch rechtfertigen und verteidigen und alles richtigstellen und klären. Aber auch damit befinden wir uns immer noch in der Gast-Rolle, denn die Deutungen der anderen Person stehen über allem und bestimmen alles. Wir stecken irgendwie fest – wie in einer Art „Problem-Trance“.
Noch tiefer rutsche ich in die ganze Situation rein, wenn ich eventuell auch noch denke, dass die andere Person Recht hat. Sie regt sich zu Recht über mich auf, weil ich tatsächlich einen Fehler gemacht habe. Dabei weiß ich überhaupt nicht, wie ich sie wieder beruhigen oder besänftigen oder gar „öffnen“ kann. Ich bin komplett ratlos … hilflos.
Und genau in dieser Hilflosigkeit steckt eine Lösungsmöglichkeit, die ich dir jetzt anbiete. Ich lade dein Gehirn zu einer Umdeutung deiner Hilflosigkeit ein. Wenn diese Umdeutung für dich stimmig ist, wirst du merken, dass die Deutungskraft deines Gehirns an dieser Stelle Wunder bewirken und dich aus deiner Hilflosigkeit sofort herauskatapultieren kann.
Schau dir einmal dieses Wort an: „Hilflosigkeit“. Du fühlst dich hilflos. Ohne Hilfe. Keiner hilft dir. Dein Ziel zu erreichen!
Du bist gar nicht in der Opfer-Rolle oder als Gast im Zuhause einer anderen Person. Du bist in deinem eigenen Zuhause, hast ein eigenes Ziel vor Augen, kannst es aber nicht erreichen und brauchst deshalb Hilfe, die du nicht bekommst. Nur allein in diesen Momenten entsteht das Gefühl von Hilflosigkeit: Du brauchst bei einem eigenen Ziel Hilfe, die du gerade nicht bekommst.
Das ist zunächst nichts Ungewöhnliches. Es ist vollkommen normal, dass du dich hilflos fühlst, wenn du Hilfe brauchst und sie gerade noch nicht bekommst. An dieser Hilflosigkeit ist erst einmal nichts falsch. Lass uns aber die spezielle Situation mit der dominanten Person noch weiter anschauen:
Welches Ziel hast du im Kontakt mit der dominanten Person? Du hast das Ziel, dass die andere Person sich freundlich und offen verhält und dich so sieht, wie du wirklich bist. Du möchtest dich dadurch endlich wieder wohl fühlen. Dein Ziel ist, die andere Person zu „öffnen“. Für deine Ziele, für deine Wünsche, für deine Bedürfnisse. Dein Ziel ist, dass dein Gegenüber dich versteht. Und das Wichtige dabei ist: Du hast die andere Person gar nicht gefragt, ob sie dir überhaupt zur Verfügung stehen möchte, ob sie dir helfen will, dein Wohlgefühl zu erreichen, ob sie also dir und deinem Ziel gegenüber in die Gast-Rolle gehen möchte und sich deinen Bedürfnissen anpasst. Dein Wunsch, die andere zu „öffnen“ und für dich zu gewinnen, ist so gesehen also eine Grenzüberschreitung von dir. Eine Entwürdigung. Dein Hilflosigkeitsgefühl gegenüber einer anderen scheinbar „verschlossenen“ Person entwürdigt sie, weil du sie in ihrem gegenwärtigen Sein, Denken und Handeln verändern willst.
Dabei ist diese Person gar nicht verschlossen. Sie zeigt dir ganz offen ihre Gefühle, ihre Grenzen, ihre Wertungen, ihre Deutungen und damit ihr Schutz-Netzwerk in ihrem Gehirn. Nur - dir gefällt das nicht, weil es sich für dich nicht gut und nicht stimmig anfühlt, was sie macht und sagt. Bezogen auf dein Ziel ist die andere Person „verschlossen“. Die Bezeichnung „verschlossen“ ist also eine Bewertung aus deiner Perspektive.
Wenn ich behaupte, dass dein Hilflosigkeitsgefühl gegenüber einer anderen dominanten Person eine Entwürdigung dieser Person ist, was wäre dann eine Würdigung? Die andere Person vollständig in ihrem Verhalten zu respektieren und zu würdigen. Und das heißt nicht, dass du dieses Verhalten aushalten musst, denn das würde ja heißen, dass du dich nun in der Gast-Rolle dem anderen zur Verfügung stellst. Sondern du kannst gleichzeitig, während du den anderen in seinem Verhalten und in seinem aktuellen Sein würdigst, deine eigenen Entscheidungen fällen und frei bestimmen (siehe Schritt 1). Du kannst deine Grenzen setzen und ohne Hilfe klar entscheiden, dass sich das gerade nicht gut für dich anfühlt und du dich nun schützt und dich zurückziehst oder deine Grenzen beschreibst.
Zielbezogen formuliert:
„Ich respektiere dein Deuten und dein Verhalten und sehe, dass du möglicherweise gerade nicht glücklich bist. Trotzdem fühlt es sich für mich nicht stimmig an. Und weil ich mir unbedingt gute Gefühle wünsche, schütze ich mich lieber vor deinem Verhalten. Du kannst nichts dafür. Wenn du meine Hilfe brauchst, gib mir gerne Bescheid. Aber leider kann ich dir nur mit guten Gefühlen helfen, wenn du dich auch freundlich verhältst.“
Noch einmal: Wenn du dich gegenüber einer dominant auftretenden Person hilflos fühlst, dann weißt du jetzt, dass dahinter dein Wunsch steckt, das aktuelle Deuten und dominante Verhalten der Person zu verändern. Und weil du gleichzeitig spürst, dass du die andere Person gerade nicht verändern kannst, fühlst du dich hilflos. In so einem Fall deutet also dein Hilflosigkeitsgefühl darauf hin, dass du einer Person gerade dein Veränderungsziel „überstülpen“ willst und sie dadurch gerade in Gedanken entwürdigst.
Würdige die Person mit ihrem Verhalten. Würdige vor allem, dass sie dir jetzt gerade nicht helfen will und sich nicht so verändern will, wie du es brauchst. Lasse von deinem eigenen Ziel los, die Person zu verändern und für dich zu gewinnen, und setze gleichzeitig deine eigenen Schutz-Grenzen, mit denen du dich selbst wieder wohl fühlst.
Ich weiß, dass das ein neues Deuten ist und dass das jetzt gerade möglicherweise noch schwer in den Kopf und vor allem ins Gefühl geht. Deswegen lade ich dich zu einem Deuten ein, das vielleicht einfacher und schneller umzusetzen ist:
Wenn du jetzt weißt (deutest), dass dein Hilflosigkeitsgefühl im Kontakt mit einem dominanten Menschen die Folge davon ist, dass du selbst das Ziel verfolgst, dein Gegenüber zu öffnen, dass du dir dafür vom anderen Hilfe wünschst, sie aber nicht bekommst und deshalb hilflos bist. Wenn du jetzt weißt, dass dein Festhalten an diesem Ziel und an dieser Hilflosigkeit eine Entwürdigung des anderen ist, dann fällt es dir möglicherweise nun leichter, von den Hilflosigkeitsgefühlen im Kontakt mit anderen Menschen schneller loszulassen. Setze an die Stelle deines Hilflosigkeitsgefühls dein tiefes Verbundenheitsgefühl. Fühlst du dich wieder hilflos, dann wechsle sofort in die Verbundenheit. Fühle dich mit dem anderen und seinem aktuellen schmerzlichen Zustand tief verbunden. Dadurch bist du plötzlich in der Lage, den anderen so zu würdigen, wie er gerade ist – mit seinem gesamten Schicksal, das hinter seinem Verhalten steckt. Vielleicht kannst du sogar viel besser Mitgefühl für den anderen entwickeln. Und du fühlst eine tiefe Betroffenheit darüber, dass der andere sich so verhalten muss.
Du kannst liebevoll und achtungsvoll genau die Grenzen setzen, die du selbst brauchst, um dich selbst zu schützen – ohne dabei die andere Person abzuwerten, denn du fühlst dich ja auch weiterhin mit ihr tief verbunden.
Es ist, als ob du als Betreuer:in mit einem kleinen Kind aus der Nachbarschaft spielst, das aus seiner Familie schlagende Impulse mitbringt. Dieses Kind hat das Bedürfnis, dich ab und zu zu schlagen. In so einer Situation hast du viel mehr Klarheit, dass das Kind für seine Impulse im Grunde nichts kann. Du kannst das Kind leichter als Mensch respektieren. Du kannst deutlich trennen zwischen dem „Kind“ und seinem „Verhalten“. Das Kind hast du lieb – und vor seinem verletzenden Verhalten schützt du dich, weil du dich wohl fühlen willst. Du fühlst dich auch weiterhin mit diesem Kind tief verbunden, während du dem Kind klar sagst, dass du dich gerne wohl fühlen möchtest und dich deshalb vor den Schlägen des Kindes schützt und versuchst, das Kind vom Schlagen abzuhalten. Du wertest immer zielbezogen. Weil du dich wohlfühlen willst, begrenzt du die Schlagimpulse des Kindes. Jedes Mal, wenn du das tust, sagst du dem Kind einfühlsam, dass es nichts für deinen Schutz kann und dass du es so lieb hast, wie es ist, und du dich mit ihm verbunden fühlst. Nur weil du dich selbst wohl fühlen willst, schützt du dich vor den Impulsen des Kindes. Du bekämpfst nicht das Kind und seine Schlagimpulse direkt. Du willst nicht das Kind verändern, denn dann würdest du dich wieder hilflos fühlen und Grenzen überschreiten. Sondern du verfolgst dein Wohlfühl-Ziel und setzt gegenüber den Schlagimpulsen Grenzen.
Das Kind bleibt frei in seiner Wahl, ob es dir bei deinem Ziel hilft und selbst seine eigenen Schlagimpulse bremst, oder ob es damit lebt, dass du dich bei aufkommenden Schlagimpulsen zurückziehst oder dich anders schützt. Und immer, wenn du dich schützt, sagst du mit einem tiefen Gefühl von Verbundenheit zum Kind: „Ich will mich wohl fühlen.“
Sobald du dich durch das Verhalten eines anderen Menschen hilflos fühlst, weil du den anderen vergeblich ändern möchtest, lässt du deine Grenzüberschreitung wieder los und wechselst in das Gefühl der tiefen Verbundenheit zum anderen. Dabei verfolgst du selbst immer deinen Wunsch, dich optimal wohl zu fühlen. Du reagierst auf dein Umfeld mit dem Gedanken: „Danke für das Angebot. Ich schau mal, wie ich damit umgehen will und wie ich mich dabei optimal wohl fühle.“
Vielleicht willst und schaffst du es immer öfter, eine tiefe Verbundenheit (siehe Schritt 17) zu anderen Menschen sowohl in deiner Gegenwart als auch in deiner Vergangenheit herzustellen. Für mich jedenfalls fühlt es sich einfach gut an. Entspannt. Außerdem erlebe ich, dass ich durch diese Verbundenheit mein Schutz-Netzwerk automatisch an vielen Stellen weiterentwickelt habe.
Gleichzeitig hat sich ein großes Potenzial in mir befreit. Ich fühle mich insgesamt freier, liebevoller und toleranter, was mich selbst sehr entspannt und glücklich fühlen lässt und meine kreativen Deutungsprozesse energievoll unterstützt.
Deswegen vermute ich: Wenn du meinen bisherigen Deutungen folgen konntest, dann hast du bestimmt schon die Erfahrung gemacht, wie dieses Werkzeug (Verbundenheit) sich befreiend auf deine Gefühle auswirken kann. Ich biete dir die Idee an, dich immer öfter an dieses Werkzeug zu erinnern, zu einem anderen Menschen heimlich eine tiefe innere Verbundenheit herzustellen – egal wie sich dieser Mensch verhält oder verhalten hat. Auch nachträglich – gegenüber allen Menschen, die dich früher einmal oder mehrmals verletzt haben.
Sollte dir jetzt ein Mensch einfallen, bei dem du eine Abwehr fühlst und dich definitiv nicht mit ihm tief verbunden fühlen willst, dann kannst du dich nun an Seite 181 erinnern und dich entsprechend fragen: Welcher Wunsch in mir steckt hinter dieser Abwehr? An welchem (sinnvollen oder inzwischen sinnlosen) Ziel halte ich stark fest und will es nicht aufgeben?
Ist dir der Wunsch / das Ziel wieder bewusst, dann kannst du dich nun fragen, ob es dir in deinem Leben besser geht, wenn du auch weiterhin an diesem Ziel festhältst oder wenn du es loslässt. Welcher Weg ist für dich jetzt der stimmige?
Ist dir dein Ziel immer noch nicht bewusst, dann kannst du es dir vielleicht bewusst machen, indem du dich fragst: Was würde Schlimmes passieren, wenn ich meine Abwehr aufgeben und eine tiefe Verbundenheit zu dem anderen Menschen herstellen würde?
Hast du darauf eine Antwort, dann kennst du nun dein Ziel, das hinter deiner Abwehr steckt. Und du kannst neu entscheiden: Wie ist es stimmig und würdevoll für mich und mein Leben? Wie will ich es?
Dadurch gelangst du zu mehr Klarheit für dich selbst - und damit auch zu mehr Selbstliebe und Lebensfreude.
Hier erreichst du Schritt 9: Fühle dich tief in dein Umfeld ein